Kategorie der verletzlichsten Personen der Gesellschaft
Unbegleitete Kinder auf der Flucht zählen aufgrund ihrer Ausgangssituation zur Kategorie der verletzlichsten Personen der Gesellschaft. Deren Vulnerabilität ist im Asylverfahren in mehrfacher Hinsicht beachtlich, sei es bei der Prüfung des internationalen Schutzbedarfs, der Zulässigkeit der Erlassung und Durchsetzbarkeit einer Rückkehrentscheidung, der Vertretung im Verfahren, der Einvernahmesituation, der Zulässigkeit der Inhaftnahme oder bei den Aufnahmebedingungen. Besondere Bedeutung kommt hierbei dem sowohl verfassungs- wie auch unionsrechtlich verankerten Kindeswohl als vorrangige Erwägung zu. Zudem garantiert Art 2 BVG Kinderrechte unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden, da sie in aller Regel dauernd oder vorübergehend aus ihrem familiären Umfeld herausgelöst sind, einen Rechtsanspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates.
Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung
Kommt Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht zu, ist gegen sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Sofern jedoch der Zweck der Rückkehrentscheidung, nämlich die Rückkehr der betroffenen Person, nicht zu erreichen und folglich die Maßnahme dauerhaft nicht durchzusetzen ist, ist der Aufenthalt in aller Regel zu regularisieren. Die in diesem Bereich einschlägige Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) sieht Sonderregelungen für unbegleitete Minderjährige vor, um deren besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen und ihren Schutz zu garantieren. Gemäß Art 10 leg cit ist vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung für unbegleitete Minderjährige Unterstützung durch geeignete Stellen zu gewähren und haben sich die Behörden vor Abschiebung zu vergewissern, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden. Der Gerichtshof der Europäischen Union präzisierte die Vorgaben in einem rezenten Urteil (C-441/19 TQ [2021] ECLI:EU:C:2021:9) dahingehend, dass das Wohl des Kindes ungeachtet des Alters vor Erlass der Rückkehrentscheidung zu prüfen ist und hielt weiters fest: „In diesem Rahmen muss sich der Mitgliedstaat vergewissern, dass für den Minderjährigen eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung steht.“ Zudem dürfe mit der Effektuierung der Rückkehrentscheidung nicht bis zum Erreichen des Alters von 18 Jahren abgewartet werden. Zumal eine Rückkehrentscheidung nur zu erlassen ist, wenn auch mit ihrer Durchsetzbarkeit innerhalb kürzester Frist zu rechnen ist, hat dies zur Folge, dass in Ermangelung geeigneter Aufnahmebedingungen der Aufenthalt zu regularisieren ist.
Der unsichere Aufenthaltsstatus in Asylverfahren
Mit der Zulassung des Asylverfahrens kommt Asylsuchenden im Regelfall ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht zu. Diese Unsicherheit des Aufenthalts führt zu Schlechterstellungen von unbegleiteten Kindern im Vergleich zu Gleichaltrigen mit gesichertem Aufenthaltsrecht und hindert ihre bestmögliche Entwicklung sowie Entfaltung. Hervorzuheben ist etwa der nur eingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt. Zudem gelten die Ausbildungspflicht für Jugendliche bis 18 Jahre und die damit einhergehenden Maßnahmen für Asylsuchende nicht. Neben den faktischen Erschwernissen wirkt sich die permanente Angst vor Abschiebung, die fehlende Handlungsmacht und damit die Ungewissheit betreffend die eigene Zukunft auf die psychische Gesundheit der Kinder negativ aus. Im Bericht der zur Prüfung des Schutzes der Kinderrechte und des Kindeswohls im Asyl- und Fremdenrecht eingesetzten Kindeswohlkommission wurde unter anderem die hohe Belastung durch die existentielle Unsicherheit und Retraumatisierungen für unbegleitete Minderjährige als negative Bedingungen thematisiert, weswegen die Kommission empfahl, die Einführung eines Bleiberechts bis 18 Jahre, mit der Option eines Umstiegs auf einen langfristigen Aufenthaltstitel nach Erreichen der Volljährigkeit bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen, zu prüfen.
Aufenthaltstitel für unbegleitete Minderjährige
Auch dem Gesetzgeber sind die besonderen Umstände, die unbegleitete Minderjährige mit unsicherem Aufenthaltsstatus betreffen, und deren negativen Auswirkungen auf das Kindeswohl offenkundig bewusst. Bereits im Zuge des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009 kam der Gesetzgeber seinen Verpflichtungen zum Schutz des Kindeswohls durch die Einführung eines Aufenthaltstitels für unbegleitete minderjährige Fremde, die sich nicht bloß vorübergehend in Obhut von Pflegeeltern oder des Kinder- und Jugendhilfeträgers befinden, nach. Auch nach der geltenden Rechtslage sieht § 41a Abs 10 NAG die – ua amtswegige – Erteilung eines Aufenthaltstitels Rot-Weiß-Rot Karte plus für diese Personengruppe unter erleichterten Voraussetzungen vor. Zweck der Bestimmung ist, so der Gesetzgeber zur Vorgängerbestimmung, die Stärkung des Rechtsschutzes im Sinne des Kindeswohls im Falle unbegleiteter Minderjähriger. In einer rezenten Entscheidung setzte sich der Verwaltungsgerichtshof mit dem Aufenthaltstitel auseinander und kam zum Ergebnis, dass sofern die Tatbestandsvoraussetzungen des § 41a Abs 10 NAG erfüllt seien – auch ohne entsprechenden Antrag – in Wahrung des Kindeswohls keinesfalls eine Rückkehrentscheidung ergehen dürfe, sondern vielmehr ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen Erfüllung eines besonderen Tatbestandes nach dem NAG besteht (VwGH 11.03.2021, Ra 2020/21/0389).
Anwendbarkeit auf unbegleitete minderjährige Schutzsuchende
Es stellt sich die Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41a Abs 10 NAG auch in Fällen von unbegleiteten Minderjährigen in oder gegebenenfalls auch nach einem Asylverfahren im Sinne des stets vorrangig zu beachtenden Kindeswohls geboten ist. Damit könnte den aufgrund der Unsicherheit des Aufenthaltsrechts bestehenden kinderrechtlichen Defiziten in der österreichischen Praxis bereits jetzt begegnet werden. Da Verfahren nach dem AsylG 2005 und dem NAG grundsätzlich nicht gleichzeitig vorgesehen sind, erscheint die Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels im Falle eines laufenden Asylverfahrens auf den ersten Blick nicht möglich. Doch hätte dies eine Ungleichbehandlung zwischen Kindern ausschließlich aufgrund des Umstandes zur Konsequenz, dass sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Dies wäre sachlich kaum zu rechtfertigen, da es sich doch in beiden Konstellationen um jene besonders vulnerable und bereits aus verfassungsrechtlichen Erwägungen schutzbedürftige und -berechtigte Personengruppe handelt. Zudem gebietet auch eine teleologische Interpretation der Bestimmung eine Ausdehnung auf unbegleitete minderjährige Asylsuchende, zumal sie sich dauerhaft in Obhut von Pflegeeltern oder des Kinder- und Jugendhilfeträgers befinden. So war es die Absicht des Gesetzgebers, durch die Schaffung dieses Aufenthaltstitels den Rechtsschutz im Sinne des Kindeswohls in Fällen unbegleiteter Minderjähriger zu stärken.
Ob § 41a Abs 10 NAG als lex specialis zu § 1 Abs 2 Z 1 NAG einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich ist oder der Gesetzgeber eine den Schutz von dieser vulnerablen Gruppe angemessene Ausgestaltung des Aufenthaltsrechts vorzusehen hat, ist offen.
Abschließende Bemerkungen
Unbegleitete minderjährige Asylsuchende haben, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, einen Rechtsanspruch auf Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus und ist ihnen ein solcher auch im Falle eines außerhalb des Asylrechts begründeten Aufenthaltsrechts zu gewähren. Gleichzeitig bestehen zu ihren Gunsten darüberhinausgehende staatliche Schutzpflichten.
Um ihnen eine altersadäquate Entwicklung und Entfaltung zu ermöglichen, bedarf es eines sicheren Aufenthaltsrechts inklusive der damit einhergehenden Rechte von Beginn ihres Aufenthaltes an, welcher nicht an die Entscheidung in Bezug auf den internationalen Schutzbedarf geknüpft ist. Dies wäre im Falle der amtswegigen Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41a Abs 10 NAG durch die Niederlassungsbehörde garantiert. Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl käme in diesen Verfahren somit die Aufgabe der Prüfung des internationalen Schutzbedarfs zu. Eine Rückkehrentscheidung wäre hingegen aufgrund des (bei Vorliegen der Voraussetzungen) amtswegig zu erteilenden Aufenthaltstitels bis zum Wegfall der Obhut jedenfalls nicht zu erlassen, womit Österreich auch seinen kinderrechtlichen Verpflichtungen – auch in Hinblick auf das Urteil des EuGH – entsprechend nachkommen würde.