Der estnische Generalanwalt Priit Pikamäe präsentierte am 30.9.2021 seine Schlussanträge zum belgischen Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-483/20, XXXX, das auch einen starken Bezug zu Österreich aufweist:
Ein Syrer hatte im Dezember 2015 in Österreich Asyl erhalten, war dann aber zu seinen beiden Töchtern (eine davon ist minderjährig; beide Töchter genießen in Belgien subsidiären Schutz) nach Belgien weitergereist und hatte dort im Jahr 2018 neuerlich um internationalen Schutz angesucht.
Die belgischen Behörden hatten den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen, weil der Antragsteller bereits in Österreich Asyl erhalten habe. Der Asylwerber erhob dagegen ein Rechtsmittel und machte geltend, die Zurückweisung des Antrags sei unter Bedachtnahme auf den Grundsatz des Familienlebens und des Kindeswohls seiner Tochter nicht rechtens. Der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) legte dem EuGH – zusammengefasst – die Rechtsfrage vor, ob Belgien unionsrechtlich daran gehindert sei, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der bereits erfolgten Zuerkennung von Schutz in Österreich zurückzuweisen, wenn der Antragsteller
– wie im vorliegenden Fall – der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes sei, das in Belgien subsidiären Schutz genieße, er der einzige Elternteil der Kernfamilie an der Seite des Kindes sei, dieses Kind bei ihm lebe und ihm das Sorgerecht zustehe; oder ob Belgien nicht im Gegenteil verpflichtet wäre, dem Vater (auch) internationalen Schutz zu gewähren, um den Familienverband zu erhalten und dem Kindeswohl zu entsprechen.
Der Generalanwalt differenziert in seinen Schlussanträgen:
Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 sei dahin auszulegen, dass er einem Mitgliedstaat die Zurückweisung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz (wegen Gewährung von internationalem Schutz in einem anderen EU-Staat) nicht gestatte, wenn der Antragsteller einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, im Fall einer Rückführung in diesen anderen Mitgliedstaat eine Behandlung zu erfahren, die mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta in Verbindung mit der in deren Art. 24 Abs. 2 verankerten Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls unvereinbar sei.
Das bedeute aber nicht, dass dem Antragsteller im weiteren Verfahren (in Belgien) unionsrechtlich jedenfalls internationaler Schutz gewährt werden müsse: Dazu müssten die Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz nach den Art. 13 und/oder Art. 18 Statusrichtlinie an ihn vorliegen. Bei dieser Beurteilung sollte grundsätzlich ein gleiches Ergebnis erzielt werden wie in Österreich; zwingend sei dies – mangels Vollharmonisierung des Rechtsbereichs – allerdings nicht. Allein das Vorbringen, das Familienleben mit den Töchtern aufrecht erhalten zu wollen, rechtfertige nach der Statusrichtlinie keinen internationalen Schutz, weil die Richtlinie ein „Familienverfahren“ nicht vorsehe.
Die Entscheidung des EuGH steht noch aus.
Bearbeitet von: Mag. Peter Nedwed