Die Beachtung der Rechtskraft zählt zu den Grundsätzen eines geordneten rechtsstaatlichen Verfahrens. Die Rechtskraft bringt grundsätzlich mit sich, dass über eine erledigte Sache nicht neuerlich entschieden werden kann: einer neuerlichen Erledigung steht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res iudicata) entgegen. Dieses Prozesshindernis steht sogar jenen Tatsachen entgegen, die Asylwerbende im Erstverfahren nicht vorgebracht haben, aber zum Zeitpunkt der Erstentscheidung (objektiv) bereits bestanden haben. Darauf, ob die Entscheidung „richtig oder falsch“ war, kommt es nur insofern an, als nach Erlassung der rechtskräftigen Entscheidung hervorkommende Umstände, die eine Unrichtigkeit dieser Entscheidung dartun, eine Beantragung der Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens wegen „nova reperta“ (das sind neue Tatsachen oder Beweismittel, die bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung vorlagen, aber erst später bekannt wurden) nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen rechtfertigen, wobei die verfahrensrechtlichen Hürden für Asylwerbende dabei ausgesprochen hoch sind: so ist der Antrag nur binnen einer (Ausschluss-)Frist von zwei Wochen ab Kenntnis dieser Umstände zulässig; die Asylwerbenden haben die Einhaltung dieser Frist initiativ darzulegen und dürfen die Wiederaufnahmegründe nach Ablauf der Frist weder ausgetauscht noch neue Wiederaufnahmegründe geltend gemacht werden; der Antrag ist bei jener Instanz des Asylverfahrens zu stellen, bei der die wiederaufzunehmende Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist, sodass ein bei der unzuständigen Instanz oder beispielsweise ein vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gestellter mündlicher Antrag (vor dem Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 38 AsylG 2005 zu stellen sind) regelmäßig verfristet war, weil ein im Rahmen einer Niederschrift protokollierter mündlicher Wiederaufnahmeantrag zwar nach der Lehre als rechtswirksam eingebracht gelten mag, die amtswegige Weiterleitung an die zuständige Behörde gem § 6 Abs 1 AVG aber regelmäßig zu Lasten der Asylwerbenden gegangen sein wird. Außerdem haben Asylwerbende im Fall der Beantragung einer Wiederaufnahme keinen Rechtsanspruch auf Beigebung eines Rechtsberaters und liegen weder beim BFA noch beim BVwG Merkblätter betreffend die Beantragung einer Wiederaufnahme auf. Den Asylwerbenden darf keinerlei Verschulden treffen, die Wiederaufnahmegründe nicht schon im abgeschlossenem Verfahren geltend gemacht zu haben und ist der Antrag in deutscher Sprache und Lateinschrift zu stellen, sofern § 2 Abs 1 Ziffer 13 AsylG 2005 nicht zur Anwendung gelangt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Rechtskraft der Entscheidung ist eine Wiederaufnahme ganz allgemein nicht mehr zulässig und sieht die innerstaatliche Rechtslage während des Wiederaufnahmeverfahrens keinen Schutz vor einer Abschiebung vor.
Da Asylwerbende sehr vulnerabel, der deutschen Sprache meist nur eingeschränkt mächtig und mit der österreichischen Rechtsordnung nicht vertraut sind, sind auf nova reperta gestützte Anbringen aufgrund dieser Hürden immer wieder aus formellen Gründen gescheitert.
Mit seiner Entscheidung vom 09.09.2021, C-18/20 hat der EuGH aber klargestellt, dass die gegenwärtige österreichische Rechtslage (jedenfalls in Teilen) nicht dem Unionsrecht entspricht und dass auf Unionsebene mehr Bewusstsein für diese Problematik zu bestehen scheint.
Der EuGH führt aus, dass die in Art 40 Abs 2 und 3 der Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU, im Folgenden: Richtlinie) genannten „neue[n] Elemente und Erkenntnisse“ auch nova reperta umfassen und dass die in § 69 AVG bzw § 32 VwGVG normierten Bestimmungen zur Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens nur dann dem Unionsrecht entsprechen, wenn die in der Richtlinie festgelegten Zulässigkeitsvoraussetzungen (insbesondere die in Art 33 Abs 2 lit d in Verbindung mit Art 40 der Richtlinie) eingehalten werden und die Bearbeitung in der Sache im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien des Kapitels II der Richtlinie erfolgt. Inwiefern hier Diskrepanzen zum Unionsrecht vorliegen, wird der VwGH zu beurteilen haben (Rz 49 des Urteils). Die in den beiden nationalen Bestimmungen vorgesehenen Ausschlussfristen sind aber jedenfalls unionsrechtswidrig.
Sollten diese Bestimmungen nicht im Einklang mit dem Kapitel II der Richtlinie stehen, ist es den österreichischen Behörden und Gerichten verwehrt, ein auf nova reperta gestütztes Anbringen deshalb abzulehnen, weil die Betroffenen dieses verschuldet nicht schon im früheren Verfahren vorgebracht haben, solange der österreichische Gesetzgeber keine Sondernormen zur Umsetzung des Art 40 Abs 4 der Richtlinie trifft.