Der prognostische Blickwinkel
10. September 2021 in
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1 Kommentare
Tags: ernsthafter Schaden, stichhaltige Gründe, subsidiärer Schutz, Vorabentscheidungsverfahren, willkürliche Gewalt
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Zu den Kriterien für die Beurteilung einer Situation willkürlicher Gewalt
Ernsthafter Schaden und ernsthafte Bedrohung
Menschen, denen keine Verfolgung iSd GFK droht, können sich dennoch für den Fall ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit einer Gefahr für ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit konfrontiert sehen. Art 3 EMRK spricht diese Gefahr an. Die Status-RL benennt sie in Art 2 Buchstabe f als „ernsthaften Schaden“, der statt der für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft notwendigen Verfolgung drohen muss und definiert diesen Begriff näher in ihrem Art 15. Neben der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder drohender Folter bzw unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung beschreibt Buchstabe c dieser Bestimmung eine weitere Fallkonstellation für das Vorliegen eines solchen „ernsthaften Schadens“, die sich von den beiden zuvor angeführten im Zugang insofern grundsätzlich unterscheidet, als der Fokus nicht auf eine gezielt die schutzsuchende Person treffende Gewaltsituation sondern auf eine insgesamt prekäre Sicherheitslage gerichtet wird, aus der sich naturgemäß ebenso eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit ergeben kann. Im Normtext ist von der „ernsthafte[n] individuelle[n] Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ die Rede. Diese Beschreibung verlangt nach weiterer Auslegung, zumal sich der angesprochenen Norm insbesondere nicht weiter entnehmen lässt, wann das Vorliegen einer „Bedrohung der Unversehrtheit“ auch die nötige Schwelle der „Ernsthaftigkeit“ erreicht.
Der EuGH befasste sich erstmals 2009 mit dieser Formulierung und stellte damals klar, es müsse „ein so hohes Niveau [willkürlicher Gewalt] erreicht [werden], dass stichhaltige Gründe für die Annahme [bestünden], dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr […] in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit [dort] tatsächlich Gefahr liefe, einer […] Bedrohung [des Lebens oder der Unversehrtheit] ausgesetzt zu sein“ (EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji, Urteilstenor).
Weitergehende Auslegungsfragen wurden nicht an den EuGH herangetragen, obwohl die angesprochene Entscheidung keine hilfreiche Aussage zu den Kriterien für die also nötige Einschätzung des Gewaltniveaus in einer Region liefert und auch nichts dazu sagt, welche Gründe „stichhaltig“ genug seien könnten, um eine solche Beurteilung tragen zu können.
„Body-count“-Ansatz
Das deutsche BVerwG vertritt (bislang) einen Ansatz, wonach zunächst eine „annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos“ stattzufinden und auf deren Grundlage eine „wertende Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit“ zu erfolgen habe (etwa BVerwG 20.05.2020, 1 C 11.19, Rn 21). Zur näheren Ermittlung sollte dabei die Zahl der Opfer von Gewalthandlungen in ein Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung in einer Gegend gesetzt werden. Das BVerwG stellte fallbezogen auch schon klar, dass eine dadurch ermittelte Zahl von 0,12 % einer Bevölkerung zu gering sei, um die von ihm kreierte – allerdings nicht näher definierte –Mindestschwelle zu überschreiten. Die unterinstanzlichen Gerichte schlussfolgerten daraus, erreiche die Zahl der zivilen Opfer eine gewisse Mindestschwelle nicht, komme es zur Beurteilung einer Gewaltsituation auf übrige – qualitative – Aspekte gar nicht mehr an.
Es entstand eine unklare Rechtslage. Eines der unterinstanzlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, machte von der Möglichkeit Gebrauch, bei der Instanz nachzufragen, der die Zuständigkeit zur Auslegung von Unionsrecht zukommt und legte dem EuGH Vorabentscheidungsfragen mit dem Ersuchen vor, sich näher zu diesem „body-count“-Ansatz des BVerwG zu äußern (VGH Baden-Württemberg 29.11.2019, A 11 S 2374/19 ua mwH zur Rechtslage).
Vorabentscheidungsurteil
Das tat der EuGH nun mit kürzlich, konkret am 10.06.2021, veröffentlichtem Vorabentscheidungsurteil in der Rechtssache C-901/19, CF, DN gegen Deutschland.
Schon der Generalanwalt beurteilte das vom BVerwG priorisierte Abstellen auf quantitative Aspekte als unionsrechtswidrig. Er kritisierte an diesem Vorgehen (Rn 44 bis 47 seiner Schlussanträge)
Der EuGH sah dies ähnlich und stellte klar, dass ein Abstellen allein auf Opferzahlen, mit der Wirkung, dass es auf andere Aspekte nicht mehr ankommen würde, nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehe. Zur Beurteilung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ vorliege, sei „eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslandes [der antragstellenden Person] kennzeichnenden Umstände, erforderlich“ (Punkt 2. des Urteilstenors). Der Gerichtshof sprach dabei konkret folgende Aspekte an (Rn 43 des Urteils):
Ausblick
Damit gibt der EuGH der Rechtsanwendung nun klare(re) Kriterien zur Hand, um das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit beurteilen zu können. Die sich nun nach Abzug der internationalen Streitkräfte prekär darstellende Sicherheitslage in Afghanistan eignet sich schon aufgrund der dichten Berichtslage gut, um erste Versuche in die Richtung zu unternehmen, Art 15 Buchstabe c Status-RL in dieser klargestellten Auslegung anzuwenden – sofern freilich von einem bewaffneten Konflikt als weiteres Kriterium für die Heranziehung dieser Norm auszugehen ist und im konkreten Einzelfall nicht ohnehin die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben sind.
Zur in den Schlussanträgen angesprochenen Notwendigkeit, einen prognostischen Blickwinkel einzunehmen, äußert sich der EuGH nicht näher. Der Generalanwalt weist darauf hin, dass zur Einschätzung des Eintritts eines ernsthaften Schadens eine „hypothetische zukünftige Situation“ zu beurteilen sei und es insofern einer Prognoseentscheidung bedürfe (Rn 46).
Am Beispiel Afghanistans zeigen sich auch die Unzulänglichkeiten einer Sichtweise, die die Beurteilung einer möglichen, in der Zukunft liegenden Grundrechtsgefahr anhand von in der Vergangenheit gelegenen Ereignissen vornehmen möchte.
Dies gilt nicht nur für das Abstellen auf Opferzahlen: Der österreichische VwGH hat noch vor einigen Wochen den Ansatz, die sich künftig aus dem sich schon abzeichnenden Truppenabzug resultierende anzunehmende Veränderung der Sicherheitslage in Afghanistan müsse Berücksichtigung finden, mit dem lediglich am österreichischen Verfahrensrecht orientierten lapidaren Hinweis verworfen, maßgeblich sei allein die Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt (VwGH 27.05.2021, Ra 2021/19/0163). Ob dieser Blickwinkel dem angesprochenen unionsrechtlichen Erfordernis, eine hypothetische zukünftige Situation zu beurteilen, Genüge tut, kann angezweifelt werden.
Der VfGH hat sich in der Entscheidung zu E 2318/2021 mit dem im Beitrag von Mag. Frühwirth angesprochenen „body count“-Ansatz näher auseinandergesetzt. Demnach kommt das BVwG seinem Prüfungsauftrag nicht gehörig nach, wenn es seine Entscheidung über die (Nicht-)Zuerkennung von subsidiärem Schutz allein auf die Zahl ziviler Opfer willkürlicher Gewalt im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stützt. In Bezug auf die Frage, ob dem irakischen Beschwerdeführer eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts droht, zog das BVwG die österreichische Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2019 heran. Es rechnete die darin ausgewiesene Anzahl an „vollendeten Morden“ (65) auf die (ca. 5-fache) Einwohnerzahl im Herkunftsstaat hoch (325), kam zu dem Ergebnis, dass die Opferzahlen im Irak um das 2,8-fache höher seien als in Österreich und zog daraus den Schluss, dass die allgemeine Sicherheitslage nicht jedenfalls zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK führe. Der VfGH erachtet diesen quantitativen Ansatz als unzulässig und führt wörtlich aus: „Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht seine Aufgabe einer Prüfung der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK, die nicht nach Maßgabe statistischer Wahrscheinlichkeiten, sondern verfassungsgesetzlich gewährleisteter (Menschen-)Rechte zu erfolgen hat.“