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Das digitale Asylverfahren 2040

8. September 2021 in Beiträge
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Tags: Digitalisierung im Asylverfahren, Digitalisierung und Menschenrechte, künstliche Intelligenz

Mag.ª Angelika Adensamer, MSc

Mag.ª Angelika Adensamer, MSc ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz und verfasst ihre Dissertation im Rahmen des Projekts DiGrenz.


Die Digitalisierung im Asylverfahren wirft grundlegende rechtliche Fragen auf.

Es ist das Jahr 2040. Sie haben eine lange, beschwerliche Flucht hinter sich und sind endlich im sicheren Österreich angekommen. Nachdem Sie an der Grenze einen Asylantrag gestellt haben, werden Sie von einem Beamten in ein Zimmer begleitet, in dem Sie alleine vor zwei Bildschirmen sitzen. Eine Stimme fordert Sie in verschiedenen Sprachen auf, sich vorzustellen. Darunter ist auch Ihre Muttersprache. Sie sagen Ihren Namen. Auf einem Bildschirm erscheint eine freundliche Animation, die Ihnen in Alter, Geschlecht und Aussehen leicht ähnelt. Die Figur fordert Sie in Ihrer Sprache auf, Ihre Hand auf eine gekennzeichnete Fläche auf den Tisch zu legen und mit geradem Kopf in den Bildschirm zu blicken. Ihre Fingerabdrücke, Ihr Gesicht, Ihre Iris und Ihre Mimik werden vermessen.

Die Animation fragt Sie, ob Sie etwas brauchen: „Haben Sie Durst, Hunger, brauchen Sie medizinische Hilfe?“ Sie bitten um Wasser. Kurze Zeit später betritt eine Beamtin das kleine Zimmer, stellt Ihnen einen Krug Wasser zur Seite, nickt Ihnen zu und verlässt den Raum wieder. Der zweite Bildschirm geht an: per Videoschaltung sehen Sie eine Person, die sich Ihnen als Ihr Rechtsbeistand vorstellt. Die Person spricht Deutsch, was Sie nicht verstehen, aber dafür verstehen Sie die Simultanübersetzung. Sie hat eine Computerstimme. Die freundliche Animation erklärt Ihnen nun die Stationen des österreichischen Asylverfahrens anhand einer übersichtlichen Präsentation und eines kurzen animierten Films.

Sie werden von der Animation aufgefordert, Ihre Fluchtgeschichte zu erzählen. Während Sie sprechen, sehen Sie eine Transkription auf dem Bildschirm erscheinen. Manche Teile sind rot markiert. Bei diesen fragt die freundliche Animation nach: „Was bedeutet …?“ Sie erklären und erklären, bis die roten Stellen weniger werden. Manchmal hilft Ihnen der Rechtsbeistand weiter. Manche Stellen bleiben bis zum Ende rot.

Zwei Wochen später erhalten Sie den Bescheid direkt auf Ihr Mobiltelefon: Die Beweiswürdigung hat ergeben, dass aufgrund der Analyse Ihrer Fingerabdrücke und Gesichtszüge kein Zweifel über Ihre Identität besteht. Ein Analyseprogramm hat außerdem anhand Ihres Dialekts Ihr Herkunftsland bestätigt. Auch die Emotionsanalyse Ihrer Mimik hat keine groben Zweifel daran ergeben. Da das System aber viele Teile Ihrer Erzählung nicht nachvollziehen konnte, sind Sie als unglaubwürdig eingestuft worden. Sie haben daher keinen Anspruch auf Asyl. Am Ende des Bescheids können Sie zwischen einer großen Taste „Bestätigen“ und einer kleineren „Weitere Informationen“ wählen. Sie klicken auf „Weitere Informationen“. Dort finden Sie eine Rechtsmittelbelehrung und ein Kontaktformular, um mit Ihrem Rechtsbeistand zu kommunizieren.

Das Szenario mag in seiner Gesamtheit unwahrscheinlich wirken, doch die einzelnen Bestandteile sind schon teilweise technisch möglich und werden in manchen Ländern in der öffentlichen Verwaltung auch schon eingesetzt. Von Chatbots zur Einvernahme, über die biometrische Identitätsfeststellung, bis hin zu automatischer Spracherkennung, Transkription und Übersetzung. Auch hybride Settings, in denen einzelne nicht ersetzbare Tätigkeiten, wie die Sorge um das körperliche Wohlergehen oder der Rechtsbeistand in ein digitales Verfahren integriert werden, sind seit der Coronapandemie oft erprobt worden. Ob künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren soweit entwickelt werden kann, dass eine Ersteinvernahme sinnerfassend interpretiert werden kann, ist ungewiss. Auch automatisierte Asylbescheide bleiben spekulativ, die rechtlichen, politischen und technischen Hürden bis dorthin sind hoch.

Die Auseinandersetzung mit Szenarien der Digitalisierung lohnt sich auch, wenn sie nicht gesichert und komplett realistisch sind. Zum Nachdenken und Diskutieren über die Zukunft gehört auch die Auslotung der Grenzfälle. Das Projekt „DIGrenz – Potential und Grenzen der Digitalisierung im Asylverfahren“ an der Universität Graz beschäftigt sich mit diesen Zukunftsszenarien. Die Forscher:innen im interdisziplinären Team beschäftigen sich mit grundrechtlichen Fragen, mit Fragen des Rechtsschutzes, aber auch mit der praktischen Entwicklung einer App, die Asylwerber:innen im Verfahren unterstützen soll.

Dissertant:innen und Studierende verschiedener Universitäten — neben den Rechtswissenschaften auch aus technischen und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen — sowie Praktiker:innen in der Rechtsberatung trafen im Juni 2021 in einem Seminar mit den Hofräten des Verwaltungsgerichtshofes Mag. Nedwed und Dr. Faber (LLM) zusammen. Gemeinsam wurde eine Reihe an Fragen diskutiert: Welche Anwendungen sind wünschenswert, welche gefährlich? Welche einfachgesetzlichen Grenzen bestehen für digitale Verwaltungsverfahren und welche verfassungsrechtlichen? Mit welcher Treffsicherheit müssen Programme funktionieren, damit sie in einem grundrechtssensiblen Bereich angewendet werden können?

Um die Potentiale der Digitalisierung für das Asylverfahren zu nutzen, ohne den Schutz und die Rechte der Betroffenen zu beschneiden, werden diese Fragen und viele mehr in den nächsten Jahren beantwortet werden müssen. Dazu können Forschungsprojekte, und Lehrveranstaltungen dienen, aber auch eine breitere gesellschaftliche Debatte über Digitalisierung und Menschenrechte ist notwendig.

 

Beitragsfoto: © Kaboompics.com


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