Ausgangslage der Vorabentscheidungsersuchen
Die diesen Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegenden Verfahren vor dem VwGH betrafen eine erwachsene afghanische Frau (VwGH 14.9.2022, Ra 2021/20/0425) sowie ein minderjähriges, im Entscheidungszeitpunkt des BVwG 14-jähriges, afghanisches Mädchen (VwGH 14.9.2022, Ra 2022/20/0028). Beide hatten in Österreich Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Ihnen wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) jeweils zwar subsidiärer Schutz gewährt, nicht jedoch der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Die dagegen erhobenen Beschwerden hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit der Begründung abgewiesen, sie hätten weder ein glaubwürdiges Fluchtvorbringen erstattet noch sich – wie behauptet – eine „westliche Lebensführung“ angeeignet (vgl. Ra 2021/20/0425, Rn. 13; Ra 2022/20/0028, Rn. 14). Im Fall der minderjährigen Beschwerdeführerin ging das BVwG in der Ra 2022/20/0028 zugrundeliegenden Rechtssache zudem davon aus, dass sich am Boden der vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben hätten, dass alle afghanische Frauen gleichermaßen bloß aufgrund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr einer GFK‑relevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt seien (vgl. Ra 2022/20/0028, Rn. 14).
In der gegen diese Entscheidungen des BVwG erhobenen außerordentlichen Revisionen hatten die beiden Revisionswerberinnen den Begründungen des BVwG je – den schon im Beschwerdeverfahren erhobenen Einwand – entgegengehalten, ihnen hätte „als Frau bereits allein aufgrund der in Afghanistan [nunmehr] nach der Machtübernahme durch die Taliban herrschenden allgemeinen Lage der Frauen der Status der Asylberechtigten zuerkannt werden müssen“ (vgl. Ra 2021/20/0425, Rn. 16 und Ra 2022/20/0028, Rn. 19).
1) Entscheidung durch den VwGH in den fortgesetzten Verfahren nach Vorabentscheidung durch den EuGH
Mit Erkenntnissen je vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028, hob der VwGH im fortgesetzten Verfahren die Entscheidungen des BVwG auf und entschied nach der im erwähnten Vorabentscheidungsurteil erfolgten Auslegung der Art. 9 Abs. 1 lit. b und Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) durch den EuGH wie folgt:
a) Diskriminierende Maßnahmen der Taliban gegen Frauen und Mädchen – „Verfolgungshandlung“ iSd Art. 9 Abs. 1 lit. a und/oder lit. b der Statusrichtlinie?
Zunächst schloss sich der VwGH den Ausführungen des EuGH zur rechtlichen Einordnung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen, wie sie auch nach dem Vorbringen der Revisionswerberinnen vom Taliban-Regime in Afghanistan gesetzt werden, an (vgl. Ra 2021/20/0425, Rn. 27ff, und Ra 2022/20/0028, Rn. 31ff), wonach
- einige dieser diskriminierenden Maßnahmen – insbesondere Zwangsverheiratung und fehlender Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt – für sich genommen als „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie einzustufen sind (Rn. 43 im Urteil des EuGH, C-608/22 und C-609/22);
- weitere diskriminierende Maßnahmen, die den Zugang von Frauen zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffenen Frauen haben, in ihrer Gesamtheit den erforderlichen Schweregrad erreichen, um als „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie eingestuft werden zu können. Sie würden dazu führen, dass afghanischen Frauen – in den Worten des EuGH – „in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsstaat verwehrt wird“ (Rn. 44 im Urteil des EuGH, C-608/22 und
C-609/22).
b) Einzelfallprüfung – aber wie?
Der VwGH erachtet es – den Ausführungen des EuGH zur Auslegung des Art. 4 Abs. 3 Statusrichtlinie folgend (Rn. 57f im Urteil des EuGH, C-608/22 und C-609/22) –
- als nicht erforderlich zu prüfen,
- ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist (s. etwa Ra 2022/20/0028, Rn. 37); sowie
- ob die Asylwerberin den (kumulierten) diskriminierenden Maßnahmen im Falle eines Aufenthalts im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Maßnahmen fügen würde (ebd.);
- für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten derzeit grundsätzlich als ausreichend, festzustellen (s. etwa Ra 2022/20/0028, Rn. 38ff),
- dass die Asylwerberin im Rückkehrfall tatsächlich und spezifisch von ebensolchen Verfolgungshandlungen – nach Art. 9 Abs. 1 lit. a bzw. b Statusrichtlinie – betroffen wäre, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, d.h. ihre Staatsangehörigkeit sowie ihr Geschlecht, erwiesen sind;
- es sei denn, dass fallbezogen Anhaltspunkte hervorkommen würden, wonach ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht bestünde und die Antragstellung lediglich aus anderen („asylfremden“) Motiven, erfolgt wäre.
Damit folgte der VwGH der Ansicht des EuGH, wonach die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen der individuellen Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz afghanischer Frauen derzeit nicht verpflichtet sind, andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.
c) Jeweils Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes
In den beiden Fällen der Revisionswerberinnen hatte es das BVwG unterlassen, sich mit jenem Vorbringen in der vom Gesetz geforderten Weise näher auseinanderzusetzen, wonach sie in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schon wegen der ihnen als Frauen von den faktisch die Staatsmacht ausübenden Taliban auferlegten Einschränkungen asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten hätten und keine umfänglichen Feststellungen – im Besonderen zur von den Taliban geschaffenen und in Afghanistan herrschenden Situation für Frauen – getroffen, die eine dem Gesetz entsprechende Beurteilung ermöglicht. Beide Erkenntnisse wurden deshalb wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes behoben.
2) Anwendung dieser Rechtsprechung auf alle Personen weiblichen Geschlechts, ohne Differenzierung nach dem Alter
Mit zwei weiteren Erkenntnissen (VwGH 31.10.2024, Ra 2023/20/0524 betraf ein im Jahr 2023 und VwGH 4.12.2024, Ro 2022/18/0003 ein im Jahr 2022 geborenes und im Säuglingsalter befindliches afghanisches Mädchen) hielt der VwGH an seiner im Gefolge des EuGH-Urteils vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C-609/22, ergangenen Rechtsprechung fest und wendete ebendiese Rechtsprechung zur Beurteilung der Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an afghanische Frauen unterschiedslos auch auf Mädchen im Säuglingsalter an.
Im Fall der 2023 geborenen Revisionswerberin hob der VwGH das angefochtene Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf, weil es in Verkennung der Rechtslage davon ausgegangen war, aus der Berichtslage zur Situation in Afghanistan sei nicht abzuleiten, dass die Personen weiblichen Geschlechts von den faktisch die Staatsmacht ausübenden Taliban auferlegten Einschränkungen eine asylrechtlich relevante Verfolgungshandlung darstellten.
Im Fall der 2022 geborenen Mitbeteiligten wies der VwGH die gegen das angefochtene Erkenntnis erhobene Amtsrevision als unbegründet ab, weil es der amtsrevisionswerbenden Behörde weder gelungen war, aufzuzeigen noch sonst zu erkennen war, dass es für die Beurteilung des Asylanspruchs einen (relevanten) Unterschied macht, ob die weibliche Antragstellerin bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat. Der VwGH erachtete es als gegeben an, dass eine weibliche Antragstellerin schon von Geburt an mit ihre Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen des Taliban-Regimes konfrontiert ist.
Bearbeitet von: Mag.a Katja Valerie Klein und Mag.a Hannah Prendinger