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“Festung Europa 2.0” mittels verpflichtender Grenzverfahren
Mit der Verfahrensreform wurde der Anwendungsbereich des Grenzverfahrens (vgl Art 43 ff) signifikant erweitert. Seitens der Mitgliedstaaten geht die Ausdehnung dieser Verfahrensform mit Fragen zur Schaffung entsprechender Infrastruktur einher. Schutzsuchende werden potenziell mit einer Reihe von (Rechts-)Schutzlücken konfrontiert. Dass es sich hierbei, nicht nur im übertragenen Sinne, um eine Stärkung der “Festung Europa” handelt, zeigen auch die starke Einschränkung des Rechts auf Einreise und die vereinfachten Haftbedingungen.
In Zusammenschau mit der ScreeningVO sollen Schutzsuchende bereits beim Eintritt in die EU an deren Außengrenze angehalten werden und, bei Vorliegen der Voraussetzungen, können oder müssen sie einem Verfahren an der Grenze unterzogen werden. Das wird (gem EG 57) in einem Überprüfungsverfahren, gemeint ist damit das Screening, festgestellt und die Person dem entsprechenden Verfahren zugeordnet. Gegebenenfalls wird die Person direkt oder nach dem Asylverfahren in ein Grenz-Rückkehrverfahren (vgl (EU) 2024/1349) überstellt. Die neue AufnahmeRL ((EU) 2024/1346) bestimmt zudem in Art 10 (4) lit d, dass ein Grenzverfahren alleine bereits einen Haftgrund bietet.
Während die bisher geltende VerfahrensRL in Art 43 vorsah, dass Grenzverfahren innerhalb einer “angemessenen Frist” abgeschlossen werden, und nach 4 Wochen ein Recht auf Einreise gewährte, soll das neue Grenzverfahren 12 Wochen dauern (Art 51 (2)). Innerhalb dieser 12 Wochen, ab der Registrierung, sollen alle Verfahrensschritte abgeschlossen werden. Bei negativem Ausgang des Verfahrens könnte die Person weitere 12 Wochen im Grenz-Rückführungsverfahren – und damit in Haft oder haftähnlichen Bedingungen – stecken. Im Anschluss könnten Personen nach der RückführungsRL (Art 15 (6)) weitere 6 bis 18 Monate in Haft verbleiben.
41 Plätze für Österreich
Grenzverfahren dürfen künftig generell hinsichtlich der Frage der Unzulässigkeit eines Antrages geführt werden oder hinsichtlich der Begründetheit, wenn einer der Beschleunigungsgründe (mit Ausnahme von Art 42 (1) lit h und i, siehe dazu Teil I) vorliegt. Bzgl dreier Kategorien von Beschleunigungsgründen sind sie sogar verpflichtend anzuwenden (Art 45 (1)): auf Personen,
- die ein Sicherheitsrisiko darstellen,
- die im Zuge des Antrages falsche Angaben gemacht haben,
- oder die einer Nationalität mit unter 20%-iger Anerkennungsrate angehören.
Der Anwendungsbereich umfasst jene Personen, denen die Einreise an der Grenze verweigert wurde. Dies kann iZm einem Antrag an einer Außengrenzübergangsstelle oder in einer Transitzone, einem Aufgriff iZm unbefugtem Überschreiten der Außengrenze, der Ausschiffung nach einem Such- und Rettungseinsatz (SAR) oder der Übernahme iZm dem neuen Solidaritätsmechanismus (Art 67 (11) AMMVO) vorkommen.
Da Österreich als Binnenstaat kaum Außengrenzen iSd Schengener Grenzkodex hat, sind die Anwendungsfälle im Wesentlichen auf Aufgriffe bzw Anträge an internationalen Flughäfen oder iZm Übernahmen aufgrund des neuen Solidaritätsmechanimus (Art 67 (11) AMMVO) beschränkt. Dies schlägt sich auch auf die, vergleichsweise gering ausfallende, verpflichtende Kapazität von 41 Plätzen nieder, die Österreich von der Europäischen Kommission zugewiesen wurde (vgl Art 46–50). Diese Anzahl von Plätzen entspricht nur 0,1 % der EU-weit an Frontex gemeldeten irregulären Grenzübertritte im Bemessungszeitraum.
Bei Erreichen der Kapazität muss eine Priorisierung nach Abschiebeerfolg und Gefahr vorgenommen werden. Selbst bei Erreichen der jährlichen Höchstzahl (die nach Art 47 (1) langsam auf das Vierfache der angemessenen Kapazität gesteigert wird) sind jedoch bei Vorliegen von Sicherheitsrisiken Grenzverfahren verpflichtend durchzuführen. Dies gilt auch für unbegleitete minderjährige Schutzsuchende.
“Fiction of Non-Entry“? Weitgehende Einschränkungen des Rechts auf Einreise
Der Fokus auf die Außengrenzen wird auch durch eine weitgehende Einschränkung des Rechts auf Einreise forciert. Ein solches haben Personen im Grenzverfahren nämlich grundsätzlich nicht, sondern bekommen es erst bei Beendigung des Grenzverfahrens aufgrund von Zeitablauf oder Wegfall der Gründe (vgl Art 51 (2)).
Es bestehen allerdings trotz Verstreichens der Verfahrensfrist weiterhin Möglichkeiten, vom Recht auf Einreise ausgeschlossen zu werden (vgl Art 43 (3) VerfahrensVO). Das trifft auf Personen zu, deren Recht auf Verbleib bereits im Verwaltungsverfahren ausgeschlossen wurde, weil sie einen Folgeantrag gem Art 55f gestellt haben oder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder nationale Sicherheit darstellen (Art 10 (4) lit a und c). Im Beschwerdeverfahren besteht in vielen Fällen kein Recht auf Verbleib und es muss daher extra beantragt und gewährt werden (Art 68 (3)). Das betrifft insbesondere Personen in allen beschleunigten und Grenzverfahren (ausgenommen unbegleitete Minderjährige). Wird ein solches Recht auf Verbleib nicht beantragt oder idF gewährt, kann die Person auch während des BVwG-Verfahrens ausgeschlossen werden.
Die Anordnung des Aufenthalts an der Grenze oder einem bestimmten Standort innerhalb des Hoheitsgebietes (vgl Art 9 AufnahmeRL) wird von der Verordnung nicht als Genehmigung zur Einreise oder Verbleib gewertet (Art 54 (4)). Selbst wenn eine faktische Einreise erfolgt, weil die Person zu einer Behörde, einem Gericht oder einer medizinischen Einrichtung verbracht wird, wird die Fiktion der “Nicht-Einreise” aufrechterhalten (vgl Art 54 (5)). Obwohl der Gesetzestext in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Einhaltung des Refoulement-Verbots verweist und die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta und EMRK durch diese Regelung nicht ausgeschlossen werden kann, könnte sie dennoch eine Einschränkung des Grundrechtsschutzes bewirken und zielt augenscheinlich auf die Aufrechterhaltung von Haftmöglichkeiten iZm Artikel 5 (1) lit f EMRK ab (vgl EGMR in Suso Musa v. Malta (No. 42337/12, 23 Juli 2013).
Grenzverfahren = Inhaftierung?
Während des Grenzverfahrens findet neben der VerfahrensVO auch die neue AufnahmeRL Anwendung. Neben Artikel 9, der den Aufenthalt “an einem bestimmten Ort” anordnet, schafft Artikel 10 (4) lit d, wie bereits erwähnt, einen Haftgrund – theoretisch für die gesamte Dauer des Grenzverfahrens und ohne Hinzukommen weiterer Umstände. Bemerkenswert ist hier, dass die neue AufnahmeRL keine Hafthöchstdauer vorsieht. Dauert das Grenzverfahren länger als die vorgesehenen 12 Wochen und ist die betroffene Person vom Recht auf Einreise ausgenommen, besteht – abgesehen vom ultima ratio-Grundsatz – kein Grund für die Beendigung der Haft.
Ergeht sodann eine negative Entscheidung, unterliegt die Person für maximal weitere 12 Wochen der GrenzrückführungsVO. War sie bereits während des Grenzverfahrens inhaftiert, kann wiederum Haft angeordnet werden, um die Einreise zu verhindern, die Rückkehr vorzubereiten oder das Abschiebungsverfahren durchzuführen (Art 5 (2) GrenzrückführungsVO). In Art 5 (3) GrenzrückführungsVO werden außerdem Haftgründe für jene Personen festgelegt, die während des Grenzverfahrens noch nicht in Haft waren.
Wird die Rückkehrentscheidung nicht innerhalb dieser Frist vollzogen, wird das Rückkehrverfahren – wie oben bereits erwähnt – unter der RückführungsRL (2008/115/EG) fortgesetzt (EG 10), wobei hier eine weitere Inhaftierung von bis zu 18 Monaten erfolgen kann. Nach Art 5 (4) GrenzrückführungsVO wird die bisherige Haft nur dann auf die allfälligen 18 Monate angerechnet, wenn eine Inhaftnahme unter der RückführungsRL sogleich angeordnet wird.
Letztlich ist Art 39 (4) für das Grenzverfahren relevant. Die Bestimmung schafft die Möglichkeit, einen Antrag als offensichtlich unbegründet zu erklären, wenn einer der Beschleunigungsgründe von Art 42 vorliegt. An sich wird Personen, deren Antrag im Rahmen des Grenzverfahrens negativ entschieden wurde, auf Antrag eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt. Eine solche Frist wird allerdings nicht gewährt, wenn der Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde (Art 4 (5) GrenzrückführungsVO).
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Adé aW
Möchten betroffene Personen gegen Entscheidungen im beschleunigten Verfahren oder Grenzverfahren vorgehen, stehen sie vor ähnlichen Herausforderungen.
Wie eingangs erwähnt, beträgt die Rechtsmittelfrist im beschleunigten Verfahren maximal 10 Tage (siehe in diesem Zusammenhang hier und hier zur Verfassungswidrigkeit einer ein- bzw zweiwöchigen Beschwerdefrist; zum Rechtsbehelf im beschleunigten Verfahren siehe auch EuGH 28.7.2011, C-69/10, wonach die Gründe für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein müssen; eine 15-tägige Rechtsmittelfrist hielt der EuGH in diesem Fall für nicht unzureichend). Im Grenzverfahren hat die Beschwerdefrist mindestens zwei Wochen, höchstens einen Monat zu betragen – wobei nochmals darauf hingewiesen sei, dass das Grenzverfahren inklusive der 2. Instanz laut dem Unionsgesetzgeber binnen 12 Wochen abgeschlossen werden soll.
Unterliegt eine Person einem beschleunigten Verfahren oder dem Grenzverfahren, hat sie gemäß Art 68 (3) lit a automatisch kein Recht auf Verbleib; das heißt auch, ihre Beschwerde hat automatisch keine aufschiebende Wirkung. Die Antragsteller:innen haben ab Zustellung der Entscheidung die Möglichkeit, binnen 5 Tagen einen Antrag auf Verbleib zu stellen. Bis darüber entschieden wird, können sie nicht abgeschoben werden. (Dies gilt uU jedoch nicht für Personen, die einen Folgeantrag stellen. Ihrer Abschiebung steht ab dem Zeitpunkt der Zustellung einer Rückkehrentscheidung nur mehr das Refoulement-Verbot entgegen, vgl die österreichische Rechtslage, die Gleiches schon nach derzeit geltender Rechtslage vorsieht § 12a (2) AsylG 2005.)
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Take away
Die besonderen Verfahrensarten unter der neuen VerfahrensVO werfen einige Fragen für Praxis, Verwaltung und Gerichte auf. Die Schwerpunktsetzung der Reform spiegelt jedenfalls wider: Durch erhebliche Einschränkungen im Recht auf Verbleib, die Festlegung sportlicher Verfahrensdauern, die Verpflichtung zur Durchführung beschleunigter (Grenz-)Verfahren, die „Fiction of Non-Entry“ und die Schaffung weitgehender Haftgründe sollen Migrationsströme „effizient gemanagt“ werden. Zu diesem Zweck sollen möglichst alle Personen, deren Chancen auf internationalen Schutz gering eingeschätzt werden, erst gar nicht auf Hoheitsgebiet gelangen und schnellstmöglich retour geschickt werden. Wie erfolgsversprechend dieses Vorhaben ist, sei angesichts der seit jeher bestehenden Probleme mit Rückführungen dahingestellt. Für den effizienten Rechtsschutz für die Einzelnen ergeben sich daraus jedenfalls enorme Risiken und auch auf die Aufnahmebedingungen und die Haftsituation in diesen Verfahren ist ein genaues Augenmerk zu legen. Wichtig wird daher sein, die neuen Informationspflichten rigoros einzuhalten, ungehinderten Zugang von Rechtsvertreter:innen und humanitären Organisationen zu den jeweiligen Räumlichkeiten zu garantieren sowie den neuen Mechanismus zur Überwachung der Grundrechte an der Grenze fristgerecht, transparent und effektiv umzusetzen.