Hintergrund
Betroffene von Zwangsheirat stehen oft vor erheblichen Hürden. Sie sind durch familiäre oder gesellschaftliche Zwänge und jahrelangen Missbrauch häufig traumatisiert. Diese Belastungen können ihre Fähigkeit einschränken, ihren Schutzbedarf klar darzulegen. Oft erkennen sich Opfer nicht als solche und finden keine Worte, um ihre Bedürfnisse zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit sie als Betroffene im Asylverfahren erkannt werden, damit sie Zugang zu dem internationalen Schutz erhalten, der ihnen zusteht.
Die kürzlich veröffentlichte FORMA-Studie (FORMA) ist die erste umfassende und multidisziplinäre Analyse zum Thema Zwangsheirat in Österreich. Sie untersucht unter anderem die Rolle von Zwangsheirat im Asylkontext und hebt Schutzlücken für Betroffene von Zwangsheirat hervor. Die Studie beschränkt sich nicht nur darauf, die formalen asylrechtlichen Anforderungen zu analysieren. Sie untersucht auch veröffentlichte BVwG Entscheidungen der Jahre 2019 bis Jänner 2024, um die aktuelle Spruchpraxis der Gerichte genauer zu beleuchten. Mittels Suchworten wie Zwangsehe; Zwangsheirat; Zwangsverheiratung; etc., die im Zusammenhang mit Zwangsheirat stehen, wurden in einem ersten Schritt potentiell relevante BVwG Entscheidungen herausgefiltert. Der Entscheidungspool von insgesamt 2600 Entscheidungen wurde in weiterer Folge näher analysiert.
Zwangsheirat und internationaler Schutz
In 373 Fällen wurde Zwangsheirat als Fluchtgrund von den Antragsteller:innen vorgebracht, beziehungsweise wurde eine bereits erfolgte oder drohende Zwangsheirat als fluchtauslösendes seitens der Antragsteller:innen erwähnt. Der Europäische Gerichtshof hat in einem jüngeren Urteil vom 16. Januar 2024 (C-621/21, Rs. WS) bestätigt, dass geschlechtsspezifische Gewalt (einschließlich Zwangsheirat) als Verfolgung in Verbindung mit einem Asylgrund (meistens die soziale Gruppe) anerkannt werden kann (siehe Blog Asyl, EuGH: Asylrelevanz geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen).
Diese Auffassung wird durch den klaren Wortlaut von Artikel 60 der Istanbul-Konvention unterstützt, der besagt, dass geschlechtsspezifische Gewalt als eine Form der Verfolgung und als schwerer Schaden betrachtet werden muss. Österreich und die Europäische Union haben beide die Istanbul-Konvention ratifiziert und sich damit zur Umsetzung ihrer Vorgaben verpflichtet.
Die Asylrelevanz wurde erst im Oktober 2024 erneut vom EuGH bekräftigt, wonach manche Maßnahmen für sich genommen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 einzustufen sind – „Dies gilt insbesondere für die Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen ist, sowie für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen, die nach Art. 3 EMRK verboten sind“ (EuGH 4. Oktober 2024, C-608/22 und C-609/22, Rn. 43).
Zuerkennungsrate von Zwangsheirat als Asylgrund und betroffene Herkunftsländer
Obwohl Zwangsheirat als Fluchtgrund rechtlich anerkannt ist und diese Form der Verwandtschaftsgewalt in vielen Ländern der Schutzsuchenden weit verbreitet ist, wurde in über 75 % (286 Fälle) der analysierten 373 Fälle des BVwG der von den Antragsteller:innen vorgebrachte Fluchtgrund zur Zwangsheirat nicht geglaubt.
In insgesamt 89 Fällen (von 373) wurde das Vorbringen zur Zwangsheirat als glaubhaft erachtet. In nur 28 dieser Fälle wurde Asyl aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsheirat betroffenen Frauen und Mädchen gewährt. In 51 der „geglaubten“ Fälle wurde Asyl aus einem anderen, vom Gericht selbst ermittelten Grund (meistens „westliche Orientierung“) gewährt. Dies trotz geglaubter Verfolgungshandlung „Zwangsheirat oder drohende Zwangsheirat“.
Einerseits könnte man argumentieren, dass der Schutz-„Grund“ irrelevant ist. Letztendlich wurde Schutz gewährt. Man ist in Sicherheit. Andererseits könnten die oben dargelegten Beobachtungen einer zurückhaltenden Auseinandersetzung mit Vorbringen zu Zwangsheirat trotz Glaubhaftmachung problematisch sein. In Ländern, in denen es keine alternativen Asylgründe (wie z. B. westliche Orientierung oder FGM) gibt, könnte diese Zurückhaltung jedoch zu einem fehlenden Schutz führen.
Weiters könnte ein besseres Verständnis für Zwangsheirat, erreicht durch eine häufigere Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. durch gezielte und sensiblere Ermittlungen, dazu führen, weniger auf alternative Begründungen zurückgreifen zu müssen, um Schutz zu gewähren. Wieso ist das notwendig? Dies würde den Opfern dieses Verbrechens ermöglichen, als solche wahrgenommen zu werden, was wiederum ihr Empowerment und die Sensibilisierung für dieses Thema fördern würde. Die Enttabuisierung des Verbrechens war ein zentrales Thema in den Betroffeneninterviews der Studie. In der Folge trauen sich vielleicht mehr Betroffene klarer und ausführlicher über diese Form der von ihnen erlittenen Verfolgung zu sprechen. Dies könnte das Beweisverfahren für Richter*innen erleichtern.
Die Analyse zeigt außerdem, dass Afghaninnen am häufigsten eine drohende oder bereits erfolgte Zwangsheirat als Fluchtgrund geltend machten, gefolgt von Antragstellerinnen aus Somalia.
Bemerkenswert ist, dass die Anerkennungsquote für Asylanträge aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsheirat bedrohten oder betroffenen Frauen und Mädchen bei somalischen Antragstellerinnen dreimal so hoch ist wie bei afghanischen Antragstellerinnen. Dies ist besonders auffällig, da Zwangsheirat in beiden Ländern als gravierendes Problem gilt und der Fluchtgrund in beiden Fällen glaubhaft gemacht wurde. Besonders bei aus Afghanistan entschieden die Richter:innen häufig, Asyl auf Basis eines anderen Fluchtgrundes („westliche Orientierung“) zu gewähren, anstatt es auf der sozialen Gruppe „Zwangsheirat“ zu basieren.
Woran könnte das noch liegen?
Die soziale Gruppe
Die Anwendung eines anderen Asylgrundes bzw. einer anderen sozialen Gruppe in der Spruchpraxis, obwohl Zwangsheirat als Verfolgung vorgebracht (und geglaubt) wurde, könnte tatsächlich darauf zurückzuführen sein, dass die Bildung einer sozialen Gruppe für Opfer von Zwangsheirat in der Praxis sehr herausfordernd ist. Die restriktive Definition der sozialen Gruppe könnte ein Grund dafür sein, dass die Fluchtgründe von Frauen inkl. Zwangsheirat nicht effektiv unter den Begriff der sozialen Gruppe subsumiert werden können.
Die Definition einer sozialen Gruppe ist wiederum von geeigneten Länderinformationsberichten (LIBs) abhängig, die alle Aspekte des Lebens von Frauen in ausreichendem Detail abdecken müssen, damit Behörden/Gerichte überhaupt in ihren Entscheidungen eine soziale Gruppe bilden können (siehe Blog Asyl, EuGH: Asylrelevanz geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen). Ob die klaren Aussagen des Europäischen Gerichtshofs zur Zwangsheirat und zur Sozialen Gruppe diese Situation ändern können, bleibt abzuwarten.
Zeitpunkt des Vorbringens
Die Studie zeigt auch, dass der Zeitpunkt, zu dem Zwangsehe als Fluchtgrund genannt wird, eine wichtige Rolle spielt. Wenn Zwangsheirat bereits in der Erstbefragung oder durchgehend in allen Verfahrensstadien (Erstbefragung, Anhörung vor dem BFA und dem BVwG) angegeben wird, liegt die Anerkennungsquote bei 10 %. Wird der Fluchtgrund jedoch erst beim BVwG genannt, wo erstmals gesetzlich verankerter Zugang zur Rechtsberatung besteht, sinkt die Anerkennungsquote auf 4 %. Diese Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig der Zeitpunkt des Vorbringens und der frühzeitige Zugang zu Beratung sind.
Frühzeitige Identifizierung
Die deutlich höheren Erfolgsaussichten, wenn betroffene Personen frühzeitig über ihre Erfahrungen mit Zwangsheirat sprechen können, unterstreichen die Dringlichkeit einer systematischen Frühidentifizierung von Opfern sowie den Zugang zu rechtlicher und psychosozialer Unterstützung.
Die Verpflichtung, dass jede:r Antragsteller:in die Gründe für den Schutzbedarf eigenständig darlegen muss, ist unbestritten. Doch besonders schutzbedürftige Personen wie Opfer von Zwangsheirat benötigen oft zusätzliche Unterstützung, um nach Jahren des Missbrauchs ihre Rechte zu verstehen und durchzusetzen. Allgemeiner geht es darum, den Mut zu fassen, die Angst vor Repressalien zu überwinden.
Insbesondere in solchen Konstellationen, und wenn Länderinformationsberichte (LIBs) deutlich machen, dass Zwangsheirat in einem bestimmten Land ein Problem darstellt, müssen die Behörden bei ihren eigenen Ermittlungspflichten zum Schutzbedarf der Antragsteller:innen eine proaktivere Haltung einnehmen.
Die Frage „Wollten Sie Ihren Ehemann heiraten?“ müsste, angesichts der Ergebnisse der Studie zu den Gründen für Zwangsheirat, daher eigentlich lauten: „Hätten Sie die Ehe ablehnen können? Hätten Sie weiterhin auf die Unterstützung Ihrer Familie zählen können?“
Schutzbedürftigkeit und Identifizierung vulnerabler Personen
Emanuel Matti wies in seinem Artikel „Wer braucht wie viel Schutz“ bereits 2016 (Emanuel Matti juridikum 2016, 329 Heft 3 v. 1.9.2016 ) auf die unzureichende Umsetzung der Aufnahmerichtlinie 2013/33/33 in Bezug auf eine strukturierte Identifizierung von vulnerablen Personen bzw auf einen „Identifikationsmechanismus“ hin. Betroffene von Zwangsheirat gelten zweifelslos als „besonders vulnerable Personen“, da sie verschiedene Formen von Gewalt bis hin zu Folter erfahren haben. Die Identifizierung dieser Menschen ist nicht nur für eine adäquate Unterbringung wichtig, sondern löst auch besondere Verfahrensgarantien aus (siehe Erwägungsgrund 29 und Art. 24 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU). Neun Jahre nach Mattis Kritik ist seine Analyse und Hinweis auf Identifizierungslücken weiterhin relevant. Eine ad-hoc-Erkennung findet zwar statt, und in manchen Fällen werden Betroffene an spezialisierte Organisationen wie Orient Express weitergeleitet, jedoch berichten viele, dass ihre Ängste nicht ernst genommen wurden und sie oft nicht wussten, an wen sie sich wenden konnten. Diese Situation ist nicht als systematische „Identifizierung“ im Sinne der EU-Aufnahmerichtlinie zu bewerten.
Neuer EU Asyl- und Migrationspakt – Chance zur Verbesserung der Identifizierung
Mit dem neuen Asyl und Migrationspakt ergibt sich endlich die Gelegenheit, die Verpflichtungen zur systematischen Identifizierung schutzbedürftiger Personen zu erfüllen. Dazu gehört auch die Anerkennung von Zwangsheirat als Form von Menschenhandel und eine menschenunwürdige Behandlung. Tatsächlich könnte die Istanbul-Konvention ebenfalls eine solche Verpflichtung begründen.
Nutzen der Frühidentifizierung
Der Nutzen für Betroffene liegt auf der Hand, doch auch die Behörden könnten von einer strukturierten Frühidentifizierung profitieren. Eine gut informierte und unterstützte Antragstellerin kann ihren Asylanspruch klarer formulieren, was den Bedarf an Einsprüchen und Gerichtsterminen senkt und somit auch Kosten reduziert. Eine solide Früherkennung und der Zugang zu umfassender Unterstützung schaffen eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.
Österreich gewährt Opfern von Zwangsheirat wie Fatime grundsätzlich Schutz. Dennoch könnten eine frühzeitige Erkennung und umfassende Ermittlungen dazu beitragen, dass weniger Opfer unbemerkt und ungehört bleiben.
Danke für diese wertvollen Erkenntnisse und Denkanstöße!