Mit Urteil vom 18. Juni 2024 entschied der EuGH in der Rechtssache C-352/22 über ein Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichtes Hamm (Deutschland).
Dem Vorabentscheidungsersuchen lag der folgende Fall zugrunde. Ein türkischer Staatsbürger kurdischer Herkunft (A) wurde 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt, da ihm als Unterstützer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) politische Verfolgung durch die türkischen Behörden drohte. Seit 2019 ist der Asylberechtigte legal in Deutschland aufhältig. Im Juni 2020 stellte ein türkisches Gericht einen Haftbefehl gegen A aus und ersuchte Deutschland um dessen Auslieferung zur Strafverfolgung, da A 2009 seine Mutter umgebracht haben soll. 2021 erklärte das vorlegende Oberlandesgericht Hamm die Auslieferung als zulässig, da der Asylgewährung durch Italien insoweit keine Bindungswirkung zukomme, als dass diese A auch in Deutschland vor einer Auslieferung in sein Heimatland schütze. Die Flüchtlingseigenschaft könne lediglich Indizwirkung haben. Das Oberlandesgericht stützte sich in seiner Entscheidung auf das Fluchtvorbringen des A und die Zusicherung der türkischen Behörden, dass in dem gegen A eingeleiteten Strafverfahren die Anforderungen an ein faires Verfahren eingehalten würden. Es stellte zudem fest, dass es unwahrscheinlich sei, dass der Haftbefehl von den türkischen Behörden als Vorwand genutzt worden sei, um A aufgrund seiner politischen Anschauungen zu bestrafen. Das Bundesverfassungsgericht hob nach einer von A eingereichten Verfassungsbeschwerde das Urteil des Oberlandesgerichts auf. Die Entscheidung habe A in seinem Recht auf einen gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz verletzt. Zudem habe das Oberlandesgericht gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV verstoßen, indem es unterließ den EuGH anzurufen und ihm die im Unionsrecht bisher ungeklärte Frage, vorzulegen.
Das Oberlandesgericht Hamm setzte das Verfahren aus und stellte dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen die Frage, ob Artikel 9 Abs. 2 und 3 der Verfahrensrichtlinie (2013/32) i.V.m. Artikel 21 Abs. 1 der Statusrichtlinie (2011/95) dahingehend auszulegen sei, dass die Anerkennung einer Person als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, die Gegenstand eines Auslieferungsersuchens seines Herkunftsdrittstaates ist, der ersuchte Mitgliedstaat an die Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden und daher verpflichtet ist, die beantragte Auslieferung abzulehnen.
Der EuGH stellt zunächst fest, dass Artikel 9 der Verfahrensrichtlinie lediglich auf Fälle anzuwenden sei, die Auslieferungen während des Verfahrens zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffen. Der Vorschrift kommt in dem Vorabentscheidungsverfahren daher keine Bedeutung zu .
Zu klären sei, ob Art. 21 Abs. 1 der Statusrichtlinie i.V.m. Art. 18 und 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Auslieferung entgegenstehen könnte. Eine Auslieferung sei laut Gerichtshof auf jeden Fall nach Artikel 18 unzulässig, wenn sich bei einer Auslieferung gerade die Gefahr realisieren würde, wegen derer A Asyl gewährt wurde. Allein der Umstand, dass sich das Strafverfahren auf einen anderen Grund als die politischen Anschauungen des A stützt, reiche nicht aus, um das Bestehen dieser Gefahr zu verneinen.
Außerdem müsse der ersuchte Mitgliedstaat das in Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerte und uneingeschränkt geltende Abschiebungsverbot im Falle eines ernsthaften Risikos der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung beachten. Bei der Prüfung, ob ein solches Risiko vorliegt, reiche es nicht, dass sich der Mitgliedstaat in seiner Entscheidung auf Aussagen des ersuchenden Landes stützt. Vielmehr müsse dieses objektive, aktuelle und zuverlässige Quellen wie Berichte und Urteile internationale Gerichte heranziehen.
Im Zusammenhang mit der Beurteilung der Gefahr einer Verletzung von Art. 21 Abs. 1 der Statusrichtlinie sowie von Art. 18 und 19 Abs. 2 der Charta und mit Blick auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entscheidet der Gerichtshof, dass die Zuerkennungsentscheidung eines Mitgliedstaates einen besonders gewichtigen Gesichtspunkt darstelle, der dazu führt, dass der ersuchte Mitgliedstaat das Auslieferungsersuchen ablehnen muss.
Begründend führte der EuGH aus, dass im Falle einer Auslieferung ohne eine vorherige Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft durch den asylgewährenden Mitgliedstaat, die in Art. 45 der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen Verfahrensvorschriften für eine Aberkennung unterlaufen werden würden. Dies würde eine de facto Beendigung der Flüchtlingseigenschaft herbeiführen und dem Betroffen eine Inanspruchnahme seiner in Art. 18 der Charta garantieren Rechte und Leistungen verwehren.
Der EuGH führt abschließend drei Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Auslieferung ins Treffen. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet zunächst den ersuchten Mitgliedstaat einen Informationsaustausch mit dem asylgewährenden Mitgliedstaat in die Wege zu leiten. Dabei muss der ersuchte Mitgliedstaat den anderen Mitgliedstaat über das Auslieferungsersuchen informieren, ihm eine Stellungnahme zu dem Ersuchen zukommen lassen und ihm eine angemessene Frist für die Übermittlung der Informationen zum Fluchtvorbringen und der Entscheidung, ob der Person die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen sei, stellen. Des Weiteren müsse, für die Zulässigkeit einer Auslieferung, der Mitgliedstaat, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, diese erst gem. Art. 14 der Statusrichtlinie unter Achtung der in Art. 45 der Verfahrensrichtlinie verankerten Garantien aberkennen. Der ausliefernde Mitgliedstaat sei außerdem verpflichtet zu überprüfen, dass im Fall der Auslieferung kein ernsthaftes Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.
Bearbeitet von: Joséphine Brühl, LL.B.