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Die Behandlung von Frauen und Mädchen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban: Asylrechtlich relevante Verfolgung im Sinne der GFK?

1. Mai 2023 in Beiträge
1 Kommentare

Tags: Frauen, Mädchen, Soziale Gruppe, Vorabentscheidungsersuchen

Sebastian Braumüller

Sebastian Braumüller studiert Rechtswissenschaften an der Universität Graz. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich dabei mit dem Asyl- und Flüchtlingsrecht sowie mit dem Menschenrechtsschutz.


Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich insbesondere die Situation für Frauen in Afghanistan stetig verschlechtert. So wurden seit Juli 2021 sowohl der Zugang zu Bildung und Arbeit als auch die Möglichkeit freier Bewegung und freier Meinungsäußerung stark beschränkt. Alltägliche Gewalt gegen Frauen, Morde und Vergewaltigungen bleiben ohne Konsequenzen.

Diese Missachtung von grundlegenden Menschenrechten wirft die Frage auf, ob Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. im Sinne des Art. 9, insbesondere des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU, weiterführend auch als StatusRL bezeichnet, ausgesetzt sind.

Zur Beantwortung dieser Frage stellte der VwGH am 14. September 2022 einen entsprechenden Vorabentscheidungsantrag, EU 2022/0016 bzw. EU 2022/0017, an den EuGH.

Der VwGH ersucht darin um Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzung des Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL hinsichtlich afghanischer Frauen gegeben ist, also ob die Kumulierung der Maßnahmen der Taliban, die die Rechte von Frauen und Mädchen einschränken, als so gravierend anzusehen ist, dass eine Frau davon in ähnlicher, wie der unter Art. 9 Abs. 1 lit. a StatusRL beschriebenen Weise, betroffen ist. Weiters ersucht er um eine Entscheidung, ob alleine die Tatsache, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, ausreicht, um die Anforderungen von lit. b zu erfüllen, oder ob eine Prüfung der individuellen Betroffenheit notwendig ist.

Art. 9 der Statusrichtlinie ist in Österreich insbesondere auch deshalb zentral von Bedeutung, da sich das Asylgesetz bei seiner Begriffsdefinition der „Verfolgung“ auf Art. 9 bezieht.

Es ist zu erwarten, dass die Beantwortung der vom VwGH gestellten Fragen eine Lücke bei der Anwendung von Art. 9 Abs. 1 lit. b schließen wird. So wurde in einer Studie der Europäischen Kommission zur Evaluierung der StatusRL deutlich, dass Art. 9 Abs. 1 lit. b mitunter aufgrund seiner Vagheit in den MS kaum zur Anwendung kommt und ein einheitliches Verständnis für die Umstände, die einer solchen Anwendung zu Grunde liegen würden, fehlt. Die Klärung des Umfangs von Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL könnte folglich wegweisend für den zukünftigen Umgang mit Fällen von struktureller Diskriminierung und der Verletzung von Menschenrechten aufgrund des Geschlechts sein.

Praxis

Im Jahr 2022 wurden in Österreich 919 positive Asylentscheidungen und 310 positive Entscheidungen über subsidiären Schutz für Antragstellerinnen aus Afghanistan rechtskräftig getroffen. Demgegenüber standen 255 negative Asylentscheidungen und 2 negative Entscheidungen über subsidiären Schutz. Zumindest seit dem Vorabentscheidungsersuchen werden tangierte Verfahren aber auch auf Grundlage des § 38 AVG ausgesetzt.

Bereits im Dezember 2022 erkannten Schweden und Finnland, dass alleine die erschwerte Situation für afghanische Mädchen und Frauen den Flüchtlingsstatus begründe. Diese Auffassung spiegelt sich folglich auch in den im Jänner 2023 veröffentlichten Neuerungen zur „Country Guidance: Afghanistan“ der EUAA und der im Februar 2023 überarbeiteten „Guidance Note on the International Protection Needs of People Fleeing Afghanistan“ von UNHCR wider.

Sind zwar weder die UNHCR Richtlinien noch die Beurteilungen der EUAA für EU MS bindend, stellen sie dennoch eine wesentliche Interpretationshilfe für die rechtliche Einordnung der Situation dar. Insbesondere müssen diese Informationen gem. Art. 10 Abs. 3 lit. b und c AsylverfahrensRL beachtet werden. So erklärte Dänemark, bezugnehmend auf die EUAA, Ende Jänner 2023, dass afghanischen Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts und der sich immer weiter verschlechternden Situation in Afghanistan der Flüchtlingsstatus zuerkannt würde. Andere Staaten, wie auch Deutschland, prüfen ihr Vorgehen im Lichte des aktuellen Länderleitfadens der EUAA und der Handlungsweise ihrer Nachbarn. Eine allgemeine Änderung der Entscheidungspraxis kann aber erst nach der Beantwortung der vorgelegten Fragen des VwGH an den EuGH erwartet werden.

Asylrelevante Verfolgung? Die Anwendung der GFK und der StatusRL auf die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan

Trotz ihrer Bedeutung für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft findet sich in der GFK keine präzise Definition des Begriffs der „Verfolgung“. Folglich wurde diese gewöhnlich über die Verweigerung oder Verletzung eines oder mehrerer grundlegender Menschenrechte, sei es dauerhaft oder systematisch, definiert. Die StatusRL ist das erste internationale Instrument, das den Begriff der Verfolgung im Kontext der GFK erläutert. Als asylrelevante Verfolgungshandlung iSd. GFK wird eine Handlung verstanden, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, lit. a, oder die Kumulierung mehrerer Handlungen und Maßnahmen, die weniger schwerwiegend wären, wenn sie einzeln durchgeführt worden wären, die aber zusammengenommen eine ähnlich unerträgliche Wirkung für den/die Antragsteller:in haben wie die in lit. a genannte schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte, lit. b.

Art. 9 StatusRL gibt selbst keinen genauen Aufschluss darüber, was unter dem Begriff der „grundlegenden Menschenrechte“ zu verstehen ist, verweist aber insbesondere auf die notstandsfesten Rechte des Art. 15 Abs. 2 EMRK und damit auf das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 4) und den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ (Art. 7). In der Rs Y und Z erfuhr diese enge Auslegung der „grundlegenden Menschenrechte“ eine Öffnung, als der EuGH das Recht auf freie Religionsausübung als grundlegendes Menschenrecht anerkannte und dieses den notstandsfesten Rechten des Art. 15 EMRK, unter den in seiner Entscheidung benannten Umständen, gleichstellbar machte. Die Beurteilung, dass grundlegende Menschenrechte über die notstandsfesten Rechte im Sinne des Art. 15 Abs. 2 hinausgehen, findet auch in der Rechtsprechung des EGMR Bestätigung. Dieser stellte fest, dass grundlegende Menschenrechte über Art. 3 EMRK hinausgehen. Ob wirtschaftliche und soziale Rechte als „grundlegende“ Menschenrechte iSd Art. 9 Abs.1 lit. a gelten würden, ist wohl zu verneinen, außer ihre Einhaltung würde ein Leben in Würde bedingen.

Bei der Beurteilung, ob eine „schwerwiegende“ Verletzung der Menschenrechte vorliegt, muss auf die Art der Unterdrückung des:der Einzelnen und deren Folgen für die betreffende Person abgestellt werden. Diesbezüglich gibt es kein einheitliches Vorgehen der MS. Im Regelfall wird fallbezogen die Schwere einer Verletzung beurteilt. Hierfür müssen alle relevanten Umstände, alle Verstöße, repressive und diskriminierende Maßnahmen sowie sonstige Benachteiligungen und Beeinträchtigungen berücksichtigt werden. Viele MS bestätigten aber, dass eine Kumulierung an Maßnahmen in ihrer Rechtspraxis einer Verfolgungshandlung gleichkommen könnte.

Die Vielzahl der Maßnahmen der Taliban, die die grundlegenden Rechte und Freiheiten von Frauen und Mädchen in Afghanistan auf vielfache Art einschränken, substantiiert die Annahme, dass eine asylrelevante Verfolgung iSd GFK und des Art. 9 Abs.1 lit. a StatusRL vorliegt. So wurden seit August 2021 mehrere Verordnungen erlassen, die die Bewegungs- und Meinungsfreiheit von Frauen und Mädchen, ihren Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung und sozialem Schutz massiv einschränken. Frauen und Mädchen werden außerdem vermehrt Opfer von (sexueller) Gewalt, ohne Möglichkeit, institutionellen oder rechtlichen Schutz zu bekommen. Sind alle diese Maßnahmen Ausdruck struktureller Diskriminierung, stellen einige von ihnen, wie Zwangsheirat, Kinderehe oder Gewalt, für sich Verfolgungshandlungen iSd Art. 9 Abs. 1 lit. a iVm. Abs. 2 dar. Selbst wenn man die Schwere einzelner Maßnahmen sowie die grundlegende Bedeutung einzelner Rechte, wie z.B. das Recht auf Bildung, als nicht asylrelevant im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. a ansieht, muss die Gesamtschau der Rechtsverletzungen, ihre Schwere und ihre Auswirkungen auf Frauen und Mädchen, den Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. lit. b eröffnen und die herrschende Situation für Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung iSd GFK und Art. 9 Abs. lit. a StatusRL gleichgestellt werden.

Nachdem die Verfolgungshandlung in Afghanistan primär von staatlicher Seite ausgeht, ist eine interne Fluchtalternative ausgeschlossen.

Welcher Verfolgungsgrund liegt bei afghanischen Mädchen und Frauen vor?

Öffnet man den Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL und anerkennt, dass die vorherrschende Situation für Frauen und Mädchen Verfolgung iSd GFK gleichkommt, stellt sich die Frage, ob ein Verfolgungsgrund vorliegt. Um im Sinne der GFK als Flüchtling zu gelten, muss die Verfolgung bzw. die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung immer kausal mit einem Verfolgungsgrund zusammenhängen.

Die Verfolgung von afghanischen Frauen kann, iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 2 lit. d iVm. Art. 10 Abs. 1 lit. b StatusRL, aufgrund der religiösen Überzeugung, auf die sich die Maßnahmen stützen, in kausalen Zusammenhang mit dem Verfolgungsgrund der Religion gebracht werden. Ebenso kann der Grund der politischen Überzeugung iSd. Art. 10 Abs. 1 lit. e StatusRL als möglicher Verfolgungsgrund angedacht werden.

UNHCR erkennt, dass die Verfolgung wegen des Geschlechts in die „Kategorie der bestimmten sozialen Gruppe fallen kann, da Frauen ein deutliches Beispiel für eine durch angeborene und unveränderliche Charakteristika definierte Untergruppe der Gesellschaft sind und oft anders als Männer behandelt werden.“ Afghanische Frauen können also aufgrund ihrer “unveränderlichen, angeborenen Merkmale” und ihrer „abgegrenzten Identität“ auch als “soziale Gruppe” im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 2 lit. d i.V.m. Art. 10 Abs. 1 lit. d StatusRL betrachtet werden.

Die Maßnahmen, die Frauen in Afghanistan betreffen, müssen, um für sie als Gesamtheit asylrechtlich relevant zu sein, mit ihrem Geschlecht bzw. der Angehörigkeit zur sozialen Gruppe der „afghanischen Frau“ verknüpft sein. Diese Verknüpfung ist bei den oben genannten Beispielen klar ersichtlich.

Welche Bedeutung kommt der Vorabentscheidung zu?

Die Beantwortung der vorgelegten Fragen durch den EuGH hat nicht nur deshalb Bedeutung, weil es den VwGH in den anhängigen Verfahren an die Ansicht des Gerichtshofs bindet, es weist auch die Richtung für einen einheitlichen Umgang der EU MS mit afghanischen Asylwerberinnen. In Anbetracht einer unwahrscheinlichen Besserung der Lage für Frauen in Afghanistan ist eine baldige Entscheidung des Gerichtshofs wünschenswert.

Meiner Ansicht nach ist anzunehmen, dass der EuGH aufgrund der angeführten Argumente Punkt 1 des Vorabentscheidungsersuchens bejahen und somit in der in Afghanistan bestehenden Kumulierung an Maßnahmen eine Verfolgungshandlung iSd. Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU sehen und die Situation für Frauen in Afghanistan als asylrechtlich relevante Verfolgung einstufen wird.

Weiter wäre es denkbar, dass eine individuelle Situationsprüfung zusätzlich zur Prüfung der Verfolgung aufgrund des Geschlechts, ob der umfassend problematischen Situation in Afghanistan, als hinfällig erachtet werden wird. Die Befolgung solch einer Entscheidung des EuGH würde in einigen MS ein Novum in der Rechtspraxis bringen.


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Kommentare

One thought on "Die Behandlung von Frauen und Mädchen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban: Asylrechtlich relevante Verfolgung im Sinne der GFK?"

  1. Sibel Uranüs sagt:

    Vielen Dank für den spannenden Beitrag!

    UNHCR hat aus Anlass des Vorabentscheidungsverfahrens eine Stellungnahme zu den aufgeworfenen wichtigen Rechtsfragen veröffentlicht und kommt darin zu folgendem Schluss: “In light of the current situation for women and girls in Afghanistan, UNHCR submits that protection is presumed to be required due to the persecutory measures taken by the de facto authorities in Afghanistan which affect women and girls solely on the basis of their gender.“

    Die Stellungnahme kann unter folgendem Link abgerufen werden: https://www.refworld.org/docid/646f0e6a4.html

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