Jeder Mensch lebt die eigene sexuelle Orientierung auf eine individuelle Art, sie ist Teil der eigenen komplexen Identität. Bei queeren Geflüchteten ist dies selbstverständlich nicht anders, bereitet aber Entscheidungsträger:innen (und manchmal der Rechtsvertretung) Kopfzerbrechen, wenn dieses Ausleben in so gar keine erwartete Schublade passt. Denn die meisten werden davon ausgehen, dass LGBTIQ* Schutzsuchende ihre sexuelle Orientierung offen ausleben wollen und deswegen asylrelevanten Gefahren in ihrem Heimatland ausgesetzt sind. Immerhin sind sie deswegen doch geflohen, oder?!
Wie der EuGH schon 2013 in C-199/12 bis C-201/12 klarstellte, dürfen Behörden zwar nicht erwarten, dass LGBTIQ* Geflüchtete ihre sexuelle Orientierung geheim halten oder Zurückhaltung üben, um einer Verfolgung zu entgehen. Doch was, wenn ein queerer Flüchtling vorbringt, gar nicht offen damit umgehen zu wollen und die eigene sexuelle Orientierung auch in Österreich eher geheim zu halten oder überhaupt nicht auszuleben? Sind Entscheidungen dann nicht legitim, die den Antrag auf internationalen Schutz mit dem Argument abweisen, dass diese zurückhaltende Lebensweise im Heimatland doch auch möglich wäre?
Nein, solche Verhaltensprognosen sind generell unzulässig – und das ergibt sich meines Erachtens gleich aus mehreren sehr unterschiedlichen Quellen: einer aktuellen VfGH-Entscheidung, einem korrigierten EuGH-Übersetzungsfehler, einer Dienstanweisung des deutschen Innenministeriums, der einschlägigen UNHCR Richtlinie und – auch wenn keine rechtswissenschaftliche Quelle im engeren Sinn – aus dem common sense.
Diskret zu sein ist keine Option
Denn mit solchen Prognoseentscheidungen ist natürlich vieles falsch, man denke nur ganz praktisch: die meisten queeren Menschen in streng konservativen Gesellschaften werden gegen ihren Willen geoutet, weil jemand in ihrem Umfeld Verdacht schöpft oder sie tatsächlich entdeckt werden. Geheimhaltung ist also keine rein individuelle Entscheidung und es gibt keine Garantien, dass dies dauerhaft gelingt. Auch die für diese Fälle einschlägige UNHCR Richtlinie Nr. 9 für LGBTIQ* Asylwerber:innen hält etwa fest, dass LGBTIQ* Personen allein dadurch „verdächtig“ werden, weil bestimmte, gesellschaftlich erwartete heteronormative Verhaltensweisen bei ihnen nicht beobachtbar sind (etwa heiraten und Kinder zeugen).
Das spiegelt sich auch in der Erfahrung vieler Klient:innen von Queer Base wider: kaum jemand hat sich freiwillig geoutet. Die allermeisten Personen, die bereits verfolgt wurden, mussten ihre Heimat verlassen, nachdem ihr Umfeld von ihrer sexuellen Orientierung erfahren hat. Auch ist das Coming-Out kein linearer Prozess. Der Wunsch, zu sich nach Außen hin zu stehen, kann in Biographien auch erst später hervortreten. Jede vernünftige Prognoseentscheidung hat all das zu berücksichtigen und muss davon ausgehen, dass auch die „diskreteste“ Person Gefahr läuft, irgendwann entdeckt zu werden, oder sich vielleicht doch outen wollen wird.
Klare Worte
Vernünftige Entscheidungen wollte auch der EuGH. Leider führte für Jahre ein Übersetzungsfehler dazu, dass die Deutlichkeit in der amtlichen deutschen Version des Urteils vom 07.11.2013, C-199/12 bis C-201/12 nicht so zu Tage treten konnte wie in anderen Amtssprachen, allen voran dem Niederländischen (der Sprache der Ausgangsverfahren, die der EuGH zu beurteilen hatte) und dem Französischen (der üblichen Beratungssprache des Gerichtshofs). Denn in Rz 76 des Urteils hieß es: „Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung
beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“
In den anderen Versionen findet sich keine vergleichbare Formulierung zu „von dem Asylwerber“, dafür heißt es an dieser Stelle jeweils, dass Behörden „redelijkerwijs“ bzw. „raisonnablement“ Geheimhaltung nicht erwarten können. Damit stellt das Urteil auf Deutsch aber potentiell auf eine völlig andere Ebene ab als in den übrigen Amtssprachen: „von dem Asylbewerber“ deutet auf die individuelle Person hin. Wenn nun „der Asylwerber“ von sich aus Geheimhaltung angibt, erwarten die Behörden genau genommen ja auch nichts, sondern stützen sich auf das individuelle Vorbringen. In den anderen Amtssprachen geht es aber vielmehr darum, was Behörden „vernünftigerweise“ nicht erwarten können – unabhängig vom individuellen Vorbringen.
Erst 2021 haben der deutsche Lesben- und Schwulenverband (LSVD) und Queer Base auf diesen Übersetzungsfehler hingewiesen, der in der Folge tatsächlich korrigiert wurde. Die zentrale Textstelle in Rz 76 lautet nun: „Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält […].“
Keine Diskretion mehr in Deutschland
Inwieweit dieser Übersetzungsfehler ausschlaggebend war für viele individuelle Verhaltens- oder besser: Diskretionsprognosen durch deutsche und österreichische Behörden in Verfahren queerer Geflüchteter, ist im Nachhinein schwer zu belegen. Doch muss dieser Fehler einen erheblichen Einfluss gehabt haben, denn erste Urteile deutscher Verwaltungsgerichte greifen dies bereits aktiv auf (etwa das VG Würzburg in Rz 14 in diesem spannenden Urteil). Nun ist auch das deutsche Innenministerium nachgezogen: Ende September 2022 wurde bekannt, dass eine neue Dienstanweisung in Kraft tritt, mit der jegliche Art der Diskretionsprognose durch die zuständige Behörde BAMF unzulässig wird. In Zukunft ist nun immer davon auszugehen, dass geflüchtete LGBTIQ* Personen in ihrem Herkunftsland ihre sexuelle Orientierung offen leben – auch dann, wenn sie von sich aus vorbringen, dass sie ihre sexuelle Orientierung verbergen!
Und in Österreich?
Auf den ersten Blick kann man sich die Klarheit, die nun in Deutschland geschaffen wurde, für Österreich nur wünschen. Ein zweiter Blick aber lässt vermuten, dass der VfGH eine ebensolche Herangehensweise immer schon erkannte, er sich nur noch nie zu einem Fall äußern musste, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz ausschließlich auf Basis einer solchen Diskretionsprognose abgewiesen wurde. Am nächsten steht dem das aktuelle Erkenntnis E 4365/2021 vom 19. September 2022 (ausführlich dazu siehe Teil eins dieses Beitrags). Im angefochtenen Erkenntnis argumentierte das BVwG nämlich ua, dass der schwule Mann vorbrachte, seine sexuelle Orientierung auch in Österreich diskret auszuleben, ihm daher auch ein dezentes Ausleben im Heimatland möglich wäre und er damit keiner Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sei. Der VfGH behebt mit der Ausführung, dass es eben nicht relevant ist, ob der Mann seine sexuelle Orientierung in irgendeiner Form in seinem Heimatstaat ausleben kann, ebenso wenig kommt es darauf an, wie er seine Homosexualität in Österreich auslebt; „ausschlaggebend ist vielmehr einzig, ob [er] seine sexuelle Orientierung [im Heimatland] ausleben kann, ohne sie geheim halten zu müssen“ (RZ 17).
Damit bricht der VfGH meines Erachtens LGBTIQ* Asylverfahren sinnvollerweise auf eine einzige Frage herunter: ist es im Herkunftsland abstrakt gedacht möglich, als (glaubhaft) queere Person zu sich zu stehen, ohne sich der Gefahr der Verfolgung auszusetzen? Ist das nicht möglich, muss die Flüchtlingseigenschaft festgestellt werden, völlig unabhängig davon, wie die individuelle Person zum Entscheidungszeitpunkt mit diesem besonderen Merkmal ihrer Identität gerade umgeht – ob sie „out and proud“ lebt, ob sie, sich nach vermeintlicher „Normalität“ sehnend, die eigene sexuelle Orientierung unterdrückt oder das Gefühl hat, sie „diskret“ ausleben zu wollen. All das ist nicht ausschlaggebend. Es geht um die Möglichkeiten, die eine LGBTIQ* Person in ihrem Heimatland hat, sie selbst zu sein.
Alle anderen Erwartungen oder Prognosen wären – mit dem EuGH gesprochen – nämlich unvernünftig.